Das letzte Konzert der diesjährigen EKM war ein bemerkenswertes Finale: Zum zweiten Mal gastierte nach 2000 (damals unter seinem Gründer Tõnu Kaljuste) der Estnische Philharmonische Kammerchor (EPCC) unter Leitung von Daniel Reuss – 1961 geboren.

 

EKM. Es wird sicher ein großer Gewinn sein, wenn er im nächsten Jahr einen Meisterkurs Chorleitung geben wird. Bereits im Künstlergespräch mit KMD Sonntraud Engels-Benz konnte man einen lebendigen Eindruck gewinnen von der Persönlichkeit des Dirigenten mit seinen so gar nicht diplomatischen Einschätzungen, mit der realistischen Darstellung seiner eigenen Arbeit und den Schilderungen der politischen, künstlerischen und menschlichen Bedingungen der Chorarbeit mit seinen bisherigen Ensembles. Bedenkt man nur, dass sein Estnischer Kammerchor bis vor kurzem zwei Monate lang sein Geld als Opernchor verdienen musste, zeigt das die Probleme grundsätzlich auf als auch hinsichtlich der nun völligen Umorientierung zum A-cappella-Singen von fast zwei Stunden Dauer im Heilig-Kreuz-Münster.
Reuss ist ein Mann der gekonnten Mitte aus Nähe und Distanz. Er will zu Recht nicht nur Arvo Pärt singen (lassen), dennoch aber das estnische Erbe pflegen. Mit Alfred Schnittke und Cyrillus Kreek konnte man wie bei Pärt oder später Sergej Rachmaninow die Tiefe einer geistlichen Musik aus der Intuition eines frommen Habitus erleben. Dass sich die Musizierenden einschließlich ihres begabten Leiters vorbehaltlos dafür in Dienst nehmen ließen, macht die Größe des Abends aus. Reuss ist ein agiler Dompteur, der mit präziser Gestik und ansteckender Mimik alle Intentionen zwingend vorgibt. Zugleich ist er ein Klangmagier, dem es gelingt, ein Espressivo zu „zaubern“, betörend und zu Herzen gehend. Auch die verschiedenen Soli und ein Soloquartett sind ästhetisch vollkommen eingebunden.
Wer bei dem relativ knapp komponierten Magnificat Pärts oder den geistlichen Gesängen Schnittkes und den Psalmen Kreeks noch distanziert zugehört haben mag, konnte sich bei Rachmaninow der Suggestion des großen Abend– und Morgenlobs nicht mehr entziehen. Was dort in 15 Beiträgen des Lobpreises, der Psalmen, Betrachtungen, des „Nunc dimittis“ des greisen Simeon, die verschiedenen Weisen des Marienlobes, des Gloria bis zum Osterjubel an Gotteslob erklingt, ist zugleich ein umfassendes Durchmessen der ganzen Heilsgeschichte mit aufgegipfelter Doxologie! Wie Reuss die dynamische Differenzierung pflegt, die Artikulation und Phrasierung, das dezente Abebben der Zeilenenden, das alles ist derart musikantisch und verrät die permanente geistige Präsenz, die der Chorleiter auf den Chor überträgt — ein in jeder Weise spürbarer Kraftakt, der das Letzte einfordert, damit aber jene Tiefe des Herzens erreicht, ohne die jene Ostliturgie in ihrer verschiedenen Ausprägung nicht denkbar ist.
Die Merkmale: Innigkeit, frischer Jubel, Dominanz der Themen, schwebendes Wiegen, dynamische Weite. Wunderbar die Soli, die „schwarzen“ Bässe, die klangliche Einheit.
Selbst das Martinshorn bestätigt in Nr. 4 nur: „Da wir zum Untergang der Sonne kommen …“.
Im persönlichen Eingebundensein der westlichen Liturgie(formen) könnte Wehmut aufkommen angesichts solcher kindlichen Versenkung in epischer Breite. Auch das machte das hinreißende Konzert deutlich, was den „Geist der Liturgie“ ausmacht. Die Spannung, Spannweite und dynamische Kraft zeigten in der Zugabe den anderen Pol solches Könnens: die Zartheit im „Liebeslied“, das den Zuhörern für ihren begeisterten Beifall geschenkt wurde.
Daniel Reuss hat ein Zeichen gesetzt: wie man a cappella eigentlich zu singen hat! Nicht akademisch, sondern im differenzierten Vollblutmusizieren — oder man lasse es einfach sein!