Man stelle sich das mal vor: Die Queen kommt im Juni zu ihrem allerletzten Staatsbesuch nach Berlin und abends hört sie sich mit Bundespräsident Joachim Gauck, dem Herzog von Edinburgh und Daniela Schadt ein Konzert mit Musik von Sir Peter Maxwell Davies an ¬– der war ja immerhin mal Master oft the Queen’s Music. Oder Barack Obama und Michelle Obama lassen bei einer künftigen Deutschlandvisite den Minimalisten Philip Glass in der Air Force One für einen Abend mit seinen Werken einfliegen.
Wir wissen nicht, ob die genannten jemals schon von den Herren Davies und Glass gehört haben, wir wissen auch nicht, ob der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves ein besonders inniges Verhältnis zu Arvo Pärt hat. Aber trotzdem lud er den leicht esoterisch tonal verstrahlten Komponisten, der dank seinen neo-gregorianisch ruhigen Entschleunigungsmusik längst der am meisten gespielte moderne Klassik-Tonsetzer ist, zu einem Abend im Berliner Konzerthaus mit Pärt-Werken in Anwesenheit des deutschen Bundespräsidentenpaares. Und Toomas Hendrik Ilves schrieb zumindest im Programm, er liebe diese Musik, „ihre Tiefe in unserer oberflächlichen Welt“. Und weiter sagte er, Pärt „bietet keine schnellen Lösungen, aber seine Lösungen sind wahrhaft“.
Das ist doppelt bemerkenswert. Joachim Gauck, ein kulturell aufgeschlossener Mann, hatte also die Gelegenheit, einem lebenden Komponisten die Hand zu schütteln. Und es erklang moderne Musik anlässlich eines Staatsbesuches. Sind die doch meist aus Zeit- und Sicherheitsgründen längst zu eher unzeremoniellen und im Gegensatz zu früher opernbesuchslosen Arbeitstreffen herabgestuft.
Das immerhin 90-minütige Konzert mit dem weltberühmten Estnischen Kammerchor, dem Kammerorchester Tallinn und seinem mit sanft schwingendem Föhnwellenhaar auf die Bühne schreitenden Dirigenten und Pärt-Apostel Tõnu Kaljuste war ebenfalls über die Musik hinaus erhellend. Es stellt erneut unter Beweis, dass der inzwischen aus seinem langjährigen Berliner Exil nach Tallinn zurückgekehrte Komponist dort so etwas wie ein Nationalheiliger ist. Eben wurde dort übrigens in bewährter Bilder-Manier von Robert Wilson eine aus diversen Einzelstücken zusammengeklebte „Adam’s Passion“ als Bühnenweihfestspiel uraufgeführt. Außerdem ist für Arvo Pärt, der am 11. September 80 Jahre alt wird, dort ein eigenes Forschungs-, Begegnungs- und Aufführungszentrum im Bau. 2018 soll es eingeweiht werden.
Und zudem wurde an dem bis auf das kurze Grußwort der estnischen Botschafterin zu 700 Jahren deutsch-baltischer Geschichte dankenswert redenlosen Abend eindrucksvoll demonstriert, wie sehr die Esten mit ihren 1,4 Millionen gesammelten Buchseiten von Volksliedern und ihrer „singenden Revolution“ nach wie vor ein Volk der Chöre sind. Ob in dem sanft fließenden, für den Essener Bischof Luthe komponierten „Salve Regina“, dem herb-dramatischen „Adam’s Lament“ dem polyphon komplexen „Te Deum“ und dem von den Chorfrauen zugegebenen „Estnischen Wiegenlied“, das gemeinsame, grandios makellose Singen ließ selbst die protokollarische Festgemeinde verschmelzen und zur iPhone-Ruhe kommen.
Man hörte und genoss ungetrübt reine Schönheit. Ganz egal ob man Pärts mystische Formeln goutiert oder für zu leicht befindet ¬– ein Staatsbesuch mit solcher Musik ist in jedem Fall ein guter politischer Höflichkeitsaustausch. Gerne wieder mehr davon.
Joachim Gauck hat übrigens von Präsident Ilves ein Foto von Nora Pärt geschenkt bekommen, das diese am 9. November 1989 in ihrer Berliner Wohnung von einem lächelnden Arvo Pärt aufgenommen hat, der vor dem Fernseher dem Fall der Mauer zusieht.

über den Autor
geboren 1965, schreibt seit 1988 über Klassik, Tanz und vieles, was schön ist. Seit 1998 Musik- und Tanzkritiker der Welt