Tallinn ist in diesem Jahr „Europäische Kulturhauptstadt”. Aus diesem Grunde erhielt Erkki-Sven Tüür den Auftrag zu einem neuen Werk, das er Ärkamine (Erweckung oder Auferstehung) nannte. Textstellen von Ernst Enno (1875-1934) und Juhan Liv (1864-1911), dazu der 24. Vers aus Psalm CXVIII, die liturgische Osterbotschaft sowie etwas von den Gegenwartsautoren Jaan Kaplinski und Doris Kareva bilden das Material für den gemischten Chor, der die bald vierzigminütige Bestellung mit vielem Anstand serviert. Die raffiniertesten Klangwirkungen und die tatsächlich „schönen” Phasen stehen allerdings im Gegensatz zu den Figuren des begleitenden Kammerorchesters, dessen oftmals arg aufdringliches Schwirren und Pfeifen nach etwa einer Viertelstunde eher einschläfernd wirken wollte, wenn man nicht immer wieder von den sausenden Flötengirlanden daran erinnert würde, dass noch lange nicht Schluß ist. Begreiflich, dass Ärkamine kurz nach der Premiere im Frühjahr auch schon aufgenommen und sofort auf CD herausgebracht wurde – die Halbwertzeit solcher Termingeschäfte ist oft genug enorm kurz.

Die Auferstehung findet erst danach statt. Rändaja ohtulaul (Wanderers Nachtlied) für Chor a cappella aus dem Jahre 2001, wiederum auf Texte des bereits genannten Ernst Enno, bietet eine musikalische Kurzweil und Vielfalt, in die man sich wahrhaftig verlieben kann. Gleich die glockenartigen Einsätze der Stimmen – ein wenig im Stile der Chordettes und ihres „Mr. Sandman” –, die eigenwilligen „close harmonies” in Kombination mit quasi kirchlichen, eher orthodoxen als römischen Rezitationstönen, rhythmische Strecken, die die ganze Begeisterung des Komponisten am eigenen Einfall verraten, die formale Durchschaubarkeit und insgesamt jener hinreißende Klang, der fest in der großen estnischen Chortradition verankert ist: ein reines, völlig ungetrübtes Vergnügen – wie übrigens auch der abschließende Welterfolg des jungen Tüür, die Insula deserta für Streichorchester aus dem Jahre 1989, eine recht individuelle funkensprühende Tontraubenlese, bei der sich die Sinfonietta Riga noch einmal nachdrücklich ins Zeug gelegt hat.