Rachmaninov: Liturgy of St. John Chrysostom – Estonian Philharmonic Chamber Choir, Kaspars Putnins

Ohne Überwältigung

Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel

 

Rachmaninow ganz bei sich, mit dem Estnischen Philharmonischen Kammerchor als fabelhaftem Instrument seiner Musik.

 

Die Liturgie des heiligen Johannes Chrysostomus außerhalb des strengen und ästhetisch doch schlichten Raums der russisch-orthodoxen Zeremonie künstlerischer Deutung anzuverwandeln und zu öffnen – das ist eine späte Frucht kompositorischer Unternehmung und ein Verdienst von Peter Iljitsch Tschaikowsky, der 1878 eine erste Version außerhalb des kultischen Gebrauchs schuf und veröffentlichte. Die Kräfte der Beharrung wollten diese Entwicklung nicht hinnehmen und klagten: Doch der Innenminister legte den Konflikt auf seine Weise bei, indem er entschied, dass der zuständige Moskauer Kirchenzensor die Veröffentlichung von Kirchenmusik ohne Rücksprache mit dem gralshütenden Kaiserlichen Chor genehmigen konnte. Eine Tür öffnete sich – und in enger zeitlicher Abfolge schlüpften Komponisten wie Rimsky-Korsakow, Gretschaninow, Ippolitow-Iwanow oder Kastalsky mit ihren neuen Versionen hindurch.

Ein Durchbruch, dem 1910 auch Sergej Rachmaninow mit seinem Zugang zur Liturgie des heiligen Johannes Chrysostomus folgte. Er griff dabei nicht auf reale und historische Vorbilder zurück, sondern war frei und nachschöpferisch tätig. Im Ergebnis standen Gesänge, die zwar im Prinzip für den Gottesdienst geeignet waren, doch schon die Uraufführung durch den Moskauer Synodalchor wurde 1910 konzertant vollzogen. Grundsätzlich hat der Komponist die im alten Kirchenslawisch gehaltenen Texte vierstimmig gesetzt – die Stimmen werden aber vielfach und mit bemerkenswerten Effekt geteilt: Ein Vorgehen, das zum einen eine reich, dichte Textur und zum anderen in der ästhetischen Strenge der ideellen Vorlagen die Entfaltung eines dezenten harmonischen Reizes ermöglicht. Die streng syllabische Vertonung evoziert eine durchgehend präsente Geste der Schlichtheit; die Lage der Stimmen ist trotz der Teilungen maßvoll weit – außer für die Bässe, die bis zum B der Kontraoktave hinabmüssen. Rachmaninow legte außerordentlichen Wert auf ein stimmiges Tableau dynamischer Feinzeichnung. Bei all diesen Qualitäten des Werks ist einzig zu bedauern, dass es im Schatten der fünf Jahre später entstandenen Ganznächtlichen Vigil op. 37 steht, die Rachmaninows Rang als Chorkomponist in der Nachwirkung deutlicher geprägt hat.

Herausragender Kammerchor

Der schon oft famose Estnische Philharmonische Kammerchor singt, geleitet von Kaspars Putniņš, diesen Rachmaninow in einer neuen BIS-Produktion in einer mit 30 Stimmen durchaus nicht schütteren Kammerchordimension. Erwartungsgemäß sind die Register herausragend und absolut stimmfachtypisch profiliert, klingen prall und substanzreich. Insgesamt kultivieren  die Sängerinnen und Sänger auch in diesem Werk ihren vielfach erprobten kernigen, konturscharfen, oft hochenergischen Klang, der dem Ensemble eigen ist und es beinahe unverwechselbar macht. Diese Substanz ermöglicht eine prächtige Fülle subtil modulierbaren Volumens, das meisterlich für die facettenreiche Darstellung des gerade in dieser Hinsicht differenzierten Geschehens genutzt wird: Der Kammerchor lotet hier – ganz bei und mit Rachmaninow – eine enorme Bandbreite aus. Ein klanglich so großes, reich substantiiertes Ensemble in edelstem Pianissimo versammelt zu hören ist mindestens ebenso eindrucksvoll, wie Gesten satter Kraftentfaltung zu erleben. Gesungen wird in atmenden Linien von großer Weite und intensivem Ausdruck; all das vollzieht sich ohne äußere Force.

Der Bass Olari Viikholm ist ein Diakon von gewaltiger stimmlicher Autorität, der die Größe und das symbolische Kapital der rituellen Aspekte mehr als nur erahnen lässt. Ihm zur Seite steht als Zelebrant mit Raul Mikson ein schlanker, kultivierter und lyrischer Tenor. Kaspars Putniņš lässt die einzelnen Sätze maßvoll fließen, ohne jedes künstliche Drängen, voller natürlicher Empfindung für Substanz und Sprachmacht von Musik und Chor. Wie oft beim Estnischen Philharmonischen Kammerchor sind intonatorisch kraftbasierte, vibrierende Momente zu erleben; doch auch eine gänzlich anders geartete Reinheit lässt aufhorchen – wo immer versammelte Konzentration das gebietet. Das Klangbild nimmt das Feine wie die gesteigerte Intensität mit großer Selbstverständlichkeit auf und versöhnt diesen üppig entfalteten Klang glücklich mit einer edlen, unbedingt notwendigen räumlichen Wirkung.

Im Ergebnis eine konzentrierte Deutung voller Klangschönheit und klug dosiertem Sentiment: Es wird keine grobe Überwältigung vermeintlich geistlicher Ambition entfaltet, nichts wird in der Tiefe künstlich geschwärzt oder in der Höhe unnötig zum Klirren gebracht. Rachmaninow ganz bei sich, mit dem Estnischen Philharmonischen Kammerchor als fabelhaftem Instrument seiner Musik.