Label/Verlag: Ondine
Detailinformationen zum besprochenen Titel

 

Zu erleben ist mit Galina Grigorjeva eine ästhetisch reflektierte, unbedingt interessierende kompositorische Stimme – deren Werke hier von ebenso erfahrenen wie künstlerisch vermögenden Ensembles geboten werden. Ein schönes Beispiel für die höchst lebendige baltische Chormusiktradition.

Die 1962 geborene Komponistin Galina Grigorjeva stammt aus der Ukraine, hat in verschiedenen sowjetischen Ausbildungsstätten musikalische Studien betrieben, die sie schließlich Anfang der 1990er Jahre in Estland fortsetzte. Im Baltikum ist sie geblieben, heute eng mit der estnischen Musikpflege, namentlich der Chortradition verbunden. Ihr persönlicher Weg markiert einen guten Teil dessen, was ihre Musik in der Gegenwart ausmacht – exemplarisch in der sechsteiligen Chorsuite ‘Svjatki’ nachzuhören: Sie verbindet auf subtile Weise Anklänge christlicher, genauer orthodoxer Traditionen mit volksliedhaften Modellen, ohne das eine oder das andere direkt zu zitieren, vordergründig zu präsentieren. Es entfaltet sich eine oft raue Kraft, ebenso düster wie überraschend sprachintensiv, mit unterschwelligen, durchaus komplexen Rhythmen, daneben immer wieder von flächigen Passagen geprägt, die von Liegetönen oder kraftvollen Parallelklängen getragen werden.

Das ‘Salve Regina’ für Vokalquartett und Streichquartett entfaltet ausnehmend lyrische Linien, die Instrumente umweben die Vokalisten, explizieren den Klang, bringen ihn zu erstaunlicher Kraft – ein Geschehen, das in seiner Intensität und Tiefe durchaus Anklänge an Arvo Pärt offenbart. Daneben sind zwei herrlich schattierte Männerchöre zu hören, das ‘Diptych’ aus dem Jahr 2011. Und natürlich das titelgebende ‘Nature Morte’ von 2008. Hier ist eine dramatisch bebende Kraft prägend, sind scharfe Glissandi zu hören, ein Murmelchor von weitgehend unklarer harmonischer Disposition, dazu Flüstern und Rufen – Galina Grigorjeva versteht sich durchaus auf ein scharf konturiertes, ästhetisch ambitioniertes Idiom, das souverän neben dem durchaus Gefälligen siedelt. Die Grenzen zwischen diesen Sphären dunkler Schönheit fließen, der Hörer wird zu einiger Aufmerksamkeit genötigt. Erwähnung verdient noch ein reines Instrumentalstück: ‘Lament’ für solistische Blockflöte, das ein reiches Spektrum dessen fordert, was auf der Flöte darstellbar ist.

Große Expertise

Gerade dieser Satz ist technisch fordernd, gestalterisch ambitioniert, mit fast neun Minuten Länge auch ausgreifend. Und Conrad Steinmann, der als Widmungsträger und Uraufführungsinterpret Grigorjevas Intentionen bestens kennt, spielt das exzeptionell: Er lässt die Flöte mit flinker Zunge springen und heulen, baut Spannungen auf, spielt mit Tonhöhen, modelliert ein höchst individuelles Klangtableau – mit einem Wort: vorzüglich.

Den interpretatorischen Hauptteil bewältigt der wunderbare Estnische Philharmonische Kammerchor, der in allen Konstellationen deutlich überzeugt: Getragen von einem fast unendlichen Atem werden ausgreifende Lyrismen gestaltet, die sich so selbstverständlich verströmen, als wäre das überhaupt keine Herausforderung. Intonatorisch sind es gerade diese weiten Flächen, die im feinen Wechsel der Harmonien hervorragend gelingen, in jeder expressiven Sphäre sattelfest. Dynamisch wird eine riesige Bandbreite expliziert, das Stille ist edel substantiiert, die üppig entfaltete Kraft wirkt elegant und kernig gleichermaßen. Dazu erweist sich der Chor in den ästhetisch avancierten Sätzen als risikobereit und explorativ mutig, auch abseits des Schönklangs.

Daneben ist das solistisch besetzte Theatre of Voices zu hören, sich hier vor allem zusammensetzend aus dem dänischen Kontext Paul Hilliers, mit der Sopranistin Else Torp, der Altistin Iris Oja, dem Tenor Christopher Watson und dem Bass Jakob Bloch Jespersen: Das ergibt ein feines Quartett, mit weit ausgreifender dynamischer Geste und überzeugender Modulationsfähigkeit des Klangs in stetem Fluss. Das YXUS Quartet stützt das mit viel linearer Qualität. Paul Hillier, dem die musikalische Welt viele Kenntnisse baltischen Repertoires verdankt, erweist sich auch hier als kompetenter Gestalter, der die Musik in frei fließenden Tempi deutet, gelegentlich dramatisch beschleunigt, gar drängend. Die ausgreifenden, beinahe nicht enden wollenden Bögen wurden bereits erwähnt. Kontrastierend dazu werden auch Szenen irisierender Bewegtheit gestaltet, werden quasi zerfallende musikalische Gesten ohne Scheu belebt.

Das Klangbild ist groß, vielleicht etwas zu groß: Denn trotz angemessener Präsenz und Strukturklarheit nimmt der unbestreitbare Charme der alles überwölbenden Korona zumindest den dynamisch avancierten Stücken etwas an Präzision und Überzeugungskraft. Im englischsprachigen Booklet überzeugen wesentliche Information und Gestaltung, tiefergehende analytische Betrachtungen dieser ja durchaus unbekannten Musik wären mindestens wünschenswert gewesen.

Zu erleben ist mit Galina Grigorjeva eine ästhetisch reflektierte, unbedingt interessierende kompositorische Stimme – deren Werke hier von ebenso erfahrenen wie künstlerisch vermögenden Ensembles geboten werden. Ein schönes Beispiel für die höchst lebendige baltische Chormusiktradition, mit teils scharfen Akzenten, immer wieder aber auch mit versöhnlichen Gesten: eine lohnende Begegnung.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert:
Booklet:



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