Der 1959 auf der estnischen Ostseeinsel Hiiumaa geborene Komponist Erkki-Sven Tüür ist wahrlich kein Unbekannter oder „Geheimtipp“ mehr, sondern schon seit Jahren ein ganz Großer seiner Zunft. Wer am 10. März dieses Jahres das Glück hatte, die Uraufführung von „Ärkamine“ (zu Deutsch: Erwachen) für Chor und Kammerorchester in seinem Heimatland – genauer: in der derzeitigen Kulturhauptstadt Tallinn – miterleben zu dürfen, der weiß, was es bedeutet, wenn ein kleines Land „seinen“ großen Komponisten verehrt.

 

Trotz damals noch dick vereister Gehwege war die altehrwürdige Estonian Concert Hall bis fast auf den letzten Platz besetzt, und das Konzert fand im Beisein des estnischen Staatsoberhauptes Toomas Hendrik Ilves statt, den Erkki-Sven Tüür zu seinen Freunden rechnen darf. Dass der wahrlich „donnernde“ Applaus nach dem letzten Takt von Ärkamine nicht enden wollte und der Komponist wieder und wieder auf die Bühne kommen musste, war nicht nur dem beeindruckenden Werk geschuldet, sondern auch ein spontaner und ehrlicher Ausdruck der Verehrung seiner Person.

Die Messlatte für die deutsche Erstaufführung von Ärkamine am 26. Mai in der Berliner Philharmonie lag also hoch. Wie schon bei der Uraufführung stand auch diesmal wieder Daniel Reuss am Pult, um den herausragenden Estnischen Philharmonischen Kammerchor und das Deutsche Kammerorchester Berlin zu dirigieren. Dass der Komponist im Publikum saß und vor dem Konzert in sein Werk einführen konnte, war letztlich Glück: isländische Aschewolken hatten den Flug von Tallinn über Riga nach Berlin zwar um Stunden verzögern, aber glücklicherweise doch nicht verhindern können.

Erkki-Sven Tüür gehört zu den Künstlern, die ungern über ihr Werk sprechen. Eitelkeit und Arroganz sind dem drahtigen Esten mit dem sympathisch-markanten Gesichtsausdruck genauso fremd wie Anbiederung an „angesagte“ Musikrichtungen und Theoreme. Er gehört zu den Komponisten, die einen unverwechselbar eigenen Stil entwickelt haben. Die ersten Takte von Ärkamine genügten, um diesen eigenwilligen „Tüür-Sound“ im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie entstehen zu lassen. Ohne eine Spur von Eklektizismus verbindet Tüür – auch in Ärkamine – Pop-Rhythmen und Kompositionstechniken der Avantgarde mit archaischen Runengesängen seiner Heimat zu einem neuen Ganzen. Und plötzlich hört und versteht man, warum Erkki-Sven Tüür Johann Sebastian Bach, Gustav Mahler und György Ligeti als sein Dreigestirn bezeichnet: Bach ist für ihn das Synonym für kompositorische Perfektion, von Mahler übernimmt er den Anspruch auf Welthaltigkeit der Musik und Ligeti liefert ihm die besessene Detailarbeit beim Ausfeilen der Partitur bis in den Mikrobereich.

Ein „Erweckungs“-Erlebnis ist in der Musik mehrfach konnotiert: Auf der ersten Ebene geht es in dem Chorwerk nach Texten klassischer und zeitgenössischer estnischer Lyriker um das Erwachen der Natur: „Die verschiedenen Gedichte sprechen wie ein stilles Gebet über das Wunder des Frühlings, der das Leben wieder erblühen lässt. In der Musik will ich christliche Vorstellungen der österlichen Wiedergeburt mit archaisch-pantheistischen Gedanken einer wild erwachenden Natur zu etwas Neuem verbinden“, sagt Tüür. Die zweite Ebene handelt – wie schon Tüürs Violakonzert „Illuminatio“ aus dem Jahr 2008 – vom inneren Erwachen: „Die Musik verdeutlicht, dass wir in einem spirituellen Sinne zu uns selbst kommen müssen, um uns besser zu verstehen und klarer sehen zu können.“ Die dritte Ebene schließlich ist politisch: Sie impliziert den Aufbruch der estnischen Nation, die 20 Jahre nach Ende der Sowjetherrschaft zu neuem Selbstbewusstsein gelangt ist. Den Kompositionsauftrag für Ärkamine erhielt Tüür von der Stadt Tallinn, die diesem Jubiläum ein akustisches Denkmal setzen wollte.

Der estnische Chor und das Berliner Kammerorchester vermittelten dem Publikum diese Botschaften auf hohem Niveau. Und auch in Berlin schlug die nordisch-herbe, jenseits von Tonalität oder Atonalität angesiedelte Tonsprache des Esten das Publikum in seinen Bann. Ein lang anhaltender Applaus belohnte einen der wichtigsten Komponisten unserer Zeit für ein wichtiges, schönes und zutiefst bewegendes Werk, dem man noch viele Aufführungen wünscht.