“Schließlich schreiben wir nicht für Fledermäuse!”, kommentierte einst Lepo Sumera, der baltische Komponist des vorliegenden Programmes, das kreative Schaffen seiner Zunft. 1950 in Tallin geboren und bereits im Jahre 2000 verstorben, studierte er Komposition bei Heino Eller, zu dessen Studenten auch Eduard Tubin und Arvo Pärt gehörten, und in den Jahren 1978 bis 1982 am Moskauer Konservatorium. Bis zu seinem allzu frühen Tode leitete er als in seiner Heimat hoch angesehener Komponist und Kultusminister (1988-1992) eine Nachwuchsklasse an der Estnischen Musikakademie, gründete ein Studio für elektronische Musik und war langjähriger Vorsitzender der Estnischen Komponistenvereinigung. Soweit zur Biographie dieser für das zentraleuropäische Musikleben noch zu entdeckenden Persönlichkeit.
Neben der Auszeichnung seines Schaffens mit mehreren estnischen Staatspreisen und anderen Ehrungen, die das Besondere seiner persönlichen Klangvorstellungen und deren Verschmelzung mit vielen im 20. Jahrhundert gereiften Techniken und Ausdrucksformen würdigen, ist sein Schaffen vor allem gekennzeichnet durch die originell und individuell inspirierten Anwendungen und Verfremdungen vertrauter Stilelemente der postseriellen Moderne, des Jazz und legitimer Anlehnungen an Orff, Penderecki, Glass und Ligeti.
Mit den Chorwerken von Sumera zeigt sich erneut der Norden Europas als ein schöpferisches Zentrum professionell-anspruchsvoller Chormusik. Spät, aber rechtzeitig genug sind dazu flankierend Sumeras sechs Sinfonien mit Paavo Järvi als Dirigenten im BIS-Katalog an die Öffentlichkeit gedrungen. Ergänzend und erweiternd dazu liegt nun die erste Folge von Chorwerk-Premieren mit Tõnu Kaljuste als Dirigent des allen Ansprüchen der oft waghalsigen Partituren gewachsenen, hervorragenden Estländischen Philharmonischen Kammerchores vor. Zugleich läßt der pointierte Einsatz eines Kammerorchesters im Concerto für Stimmen und Instrumente und die solistisch raffinierte Bereicherung der Farbpalette durch Einzelinstrumente in den weiteren Beiträgen aufhorchen. Immer geht es Lepo Sumera darum, die Ohren der Zuhörer mit zwischen Vertrautheit und Fremdheit pendelnden Klangspielen regelrecht zu kitzeln. Natürlich sind ihm dabei auch die bewährten (Kontrast-)Rezepte kunstgewerblicher Illustration und hieroglyphischer Provokation geläufig.
Die Vielfalt aller gestalterischen Mittel bedeutet für den baltischen Komponisten, wie er es quasi-testamentarisch verfügt hatte, daß “die Musik nicht bloß Information sei, sondern zugleich ein Medium, das Seele, Herz und Geist menschlicher Wesen verbindet”. Tonalitätsbezogene Taktsequenzen, abstrahierende Cluster, Ostinato-Rhythmen, lyrische Passagen, Koloraturen, Bordun-Effekte, kühne Chorglissandi, Seufzer, Flüstern und schlichtes Textrezitieren, teils solistisch, teils als kollektives Deklamieren, gelegentlich polyphon zum Durcheinander wirr zerfasert, gewinnen ihre konstruktive Logik aus dem künstlerischen Ablauf des Geschehens. Dadaistische Nonsense-Wortspielereien sind dem Autor ebenso willkommen (Track 1: “kirikiri klara kinkis”), wie die in allen Ausdrucksvarianten vertonten (lateinischen) Namen vieler Pilze in einer von sublimer Heiterkeit und Ernst durchwobenen Pilzkantate. Stark versponnen wirkt dagegen das außerhalb von Sumeras Heimat inhaltlich, sprachlich und musikalisch nur schwer nachvollziehbare Hauptwerk aus dem estnischen Nationalepos “Kalevipoeg” der vorliegenden CD mit seiner halbstündiger Vortragsdauer. Selbst mit englischer Übersetzungshilfe ertrinkt das “Inselmädchen aus dem Meere” (Saare piiga laul merest) hier buchstäblich in den überschwappenden Klang-, Wort- und Gelächterwellen der Partitur.