Ein spannungsgeladenes Projekt ist das allemal, die Klänge des skandalträchtigen in die Musik sich flüchtenden genialen Melodikers und Psychopathen Carlo Gesualdo (1561-1613) samt seiner Kühnheiten in zeitgenössischen Werken zu spiegeln. Es ist ja kein einfacher Unterfangen, die musikhistorische Bedeutung des Prinzen von Verona zu beurteilen. Was der an ungewöhnlichen Klangverbindungen, Wechsel der Tonarten und exzessiver Chromatik  seinen Werken mit auf den Weg gab, stößt auf widersprüchliche Urteile bei Autoren des 19. Jahrhunderts. Da ist von Unaufführbarkeit die Rede, während seine Werke im Licht des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt durch Paul Hindemiths Vorwort in seinen Madrigalen und Igor Strawinskys Bemühungen (Orchesterbearbeitung der Madrigale und Rekomposition dreier Madrigale „Monumentum pro Gesualdo di Venosa ad CD annum l960“), einer Wiederentdeckung seines Schaffen den Weg ebnete. Für einige Komponisten sei Gesualdo Vorbild und diene – so Franz Hummel – durch seine Vita als Stoff für eine Oper. Dass man ihn die Rolle eines Experimentators zuweist (so Riemann), mag noch dahingehen. Ihn jedoch als Manieristen abzustempeln (Carl Dahlhaus) erscheint wohl gewagt. Schon mag eine Rehabilitierung als musikalischer Erneuer für eine zeitgerechte Qualifizierung sinnvoller sein. Grund genug für zeitgenössische Komponisten, im Stil von Gesualdos vermeintlicher Modernität – eine ins Hochdramatische gesteigerte klangliche Physiognomie – auch der erotischen Momente wegen zu komponieren (Salvatore Sciarrino, Klaus Huber). Dass des Renaissancekomponisten Gesualdo vierhundert Jahre alten klanglichen Vorräte noch längst nicht bis ins letzte ausgelotet sind, nehmen der Este Erkki-Sven Tüür und der rührige Australier Brett Dean zum Anlass, sich von der ästhetischen Brisanz und dem harmonischen Furor seiner polyphonen Madrigale inspirieren zu lassen.
So komponierte der Australier Dean Brett für das Huntington Festival 1997 „Carlo“, und zwar in der ursprünglichen Besetzung für 15 Solostreicher, Sampler und bespielter Kassette. Die Aufnahme von ECM wurde allerdings nicht via vorproduziertem Band realisiert, sondern live produziert mit Vokalisten.  Das Entrée zu „Carlo“ erfolgt zunächst mit „Gesaldo pur“, und zwar mit dem Choral „Moro lasso“ aus dem 6. Madrigalbuch in der von Töno Kaljuste transkribierten Fassung für Streichorchester. Sukzessive öffnen sich in jeweils unterschiedlichen Tempi, differenzierter Dynamik und verzerrter Gesten die klanglichen Welten des 20. Jahrhunderts. Immer wieder erfolgen Rückblenden in die Welt Gesualdos. Während der Transfers ins Moderne zwischen den zeitlichen Ebenen übernehmen Gesualdos Madrigale die Funktionen von Einflüsterungen, und zwar als eine Reduktion von Geräuschen des Atems. Das steigert sich zu dramatisch hochgezogener Intensität, stellvertretend für das, was sich in der Mordnacht am 26.Oktober 1590 zu getragen hat als Gesualdos Frau Maria d’Avolos und ihr Geliebter, Don Fabriio Carafa, Herzog von Andria, um die Ecke gebracht wurden.
Erkki-Sven Tüür gehört neben Arvo Pärt zu den international bekanntesten estnischen Komponisten der Gegenwart. Für Theoretiker wolle er nicht schreiben, mag auch seine neueste vektorielle Schreibweise an mathematischen Operationen erinnern, wo Zahlenreihen und Intervallfolgen (Ketten) die kompositorische Gestalt definieren. Im Übrigen komme es ihm auf das Verhältnis zwischen geistiger und emotionaler Energie an, ebenso auf die Möglichkeiten, diese zu lenken, zu konzentrieren, zu liquidieren und sich wieder ansammeln zu lassen (Vgl. MGG, Band 16, Spalte 1155). Diese kompositorischen Vorstellungen fließen auch in „L’ombra della croce“ (2014) für Streichorchester ein – zugeeignet dem ECM Produzenten Manfred Eicher. Die Komposition greift auf Gesualdos Motette „O crux benedicta“ zurück, die Tüür in einer ergreifenden Version für Streichorchester kreiert hat. Die Annäherung an Gesualdo geschieht in Tüürs 2015 entstandenem „L’ombra… mit großer würdiger Ruhe, wofür auch das Ambiente der Methodistenkirche Tallinn der spirituellen Komponente den adäquaten Klangraum abgibt.
In Tüürs rhythmisch pulsierender Komposition „Psalmody“, die mehrmals bearbeitet wurde und in der Einspielung einer Version von 2011 zu hören ist, lauscht man fantasiereich sich darstellenden harmonischen Überraschungen. Gut durchhörbar sind die klanglichen Schichten. Die Aufnahmetechnik sorgt für eine klare Ablichtung der kontrastreichen Organismen sowie guter räumlicher Staffelung im kirchlichen Areal. Großes Lob verdienen der Estonian Philharmonic Chamber Choir und das Tallin Chamber Orchetra unter der Stabführung von Tönu Kaljuste. Die Komponisten Erkki-Sven Tüür und Brett Dean bereichern das Booklet jeweils mit werkspezifischen Anmerkungen. Eine deutsche Übersetzung gibt es hierfür nicht.