Faszinierend, diese Gegenüberstellung von Alt und Neu, von Gregorianik und moderner Chorliteratur. So auch im Speyerer Kaiserdom, wo es der Kammerchor der Estnischen Philharmonie schafft, einen weiten Bogen über die Jahrhunderte zu schlagen, der trägt. Und der die Hoffnung in sich birgt, er möge auch in ferner Zukunft nicht abbrechen.

Zunächst fällt auf, dass der 26-köpfige Klangkörper über ausgezeichnete Solisten verfügt, die sich immer wieder, etwa mit Unisono-Gesängen von anonymen mittelalterlichen Liederdichtern, in kleineren Ensembles zusammenfinden. Intonationssicher, strahlend in der Tongebung und kraftvoll im Ausdruck. Auch im Chor sind bei zahlreichen Gelegenheiten solistische Einzelleistungen zu hören, die mehr als deutlich machen, über welches gesangliche Potenzial dieses Ensemble verfügt. Ein Pfeiler dieses musikhistorischen Brückenbaus sind an diesem Abend die Psalmengesänge von Felix Mendelssohn-Bartholdy, die der Chor mit vitaler Innenspannung, einem sonoren Bassfundament, präsenten Tenören, stützenden Altstimmen und mit höhensicherem Sopran vorträgt.

Reizvoll der Wechsel zwischen Solo- und Tutti-Partien, vor allem aber das Nachempfinden der Dramaturgie, die dem Psalm “Mein Gott, warum” zugrunde liegt. Chorleiter Daniel Reuss ist ein Klangvisionär. Das sieht man schon seiner Gestik an, wie er die Stimmen ordnet und gleichsam Räume öffnet. Mit zwei vertonten Gedichten von Joseph Brodsky der estnischen Komponistin Galina Grigorjeva wagt Reuss einen weiten Schritt in die Moderne und entwirft schwebende, irisierende Klanglandschaften. In Arvo Pärts Magnificat-Antiphonen begeistert die dynamische Einsatzbereitschaft der Estnier. Von lebhafter Klangrede geprägt auch Frank Martins Messe, deren fünf Teile der Chor mit ungebrochener Standfestigkeit und unbändigem Ausdruckswillen darbietet. Großartig. urs